Dem Westen fällt es immer schwerer, genügend Geld für die Ukraine aufzubringen. Da läge es nahe, Russlands eingefrorene Zentralbankreserven zu nutzen. Doch die EU scheut den Griff in Moskaus Milliardenschatz. Warum?
Wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht, dann hören sich auch verhältnismäßig kleine Gesten oft an wie große Durchbrüche. So ist es auch bei der Frage, ob Europa Russlands eingefrorene Milliardensummen nicht stärker einsetzen könnte für die Unterstützung der Ukraine. »Es könnte kein stärkeres Symbol und keine bessere Verwendung dieses Geldes geben, als die Ukraine und ganz Europa zu einem sichereren Ort zu machen«, sagte von der Leyen schon Ende Februar.
Rund 260 Milliarden Euro russische Zentralbankreserven hat der Westen nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine eingefroren und damit dem direkten Zugriff des Kreml entzogen. Seitdem wird immer hitziger darüber debattiert, ob und in welchem Ausmaß diese Mittel der Ukraine zur Verfügung gestellt werden können – für Verteidigung und Wiederaufbau. Die Regierung in Kiew hat die Verbündeten wiederholt dazu aufgerufen, die Kontrolle über ebendiese Vermögenswerte an die Ukraine zu übergeben.
Nun hat Europa eine entsprechende Initiative vorbereitet. Doch trotz von der Leyens markiger Wortwahl: Das Finanzvolumen nimmt sich angesichts des gesamten Hilfsbedarfs der Ukraine von geschätzt etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr nicht gerade imposant aus.
Die EU will die eingefrorenen russischen Zentralbank-Milliarden nicht direkt anzapfen. Stattdessen sollen – wie zuvor schon einige EU-Staaten verkündet hatten – nur die Erträge abgeschöpft werden, die in der Zwischenzeit mit dem Vermögen erwirtschaftet werden. Bis 2027, über einen Zeitraum von vier Jahren also, sollen so 11,5 Milliarden Euro erzielt und an die Ukraine überwiesen werden. Formal wird die belgische Regierung die Erträge der russischen Anlagen beim Zahlungsabwickler Euroclear mit einer hohen Steuer belegen, die Brüssel dann einziehen soll.
Im Sommer dieses Jahres soll eine erste Tranche in Höhe von rund einer Milliarde Euro fließen. Rund 90 Prozent davon will Brüssel der sogenannten European Peace Facility zuführen, um Waffen und Munition für Kiew zu beschaffen. Der Rest ist für Reparaturen an der zerstörten ukrainischen Infrastruktur vorgesehen. Eine Aufteilung, mit der die EU den Schwerpunkt ihrer Ukrainehilfe deutlich verschiebt. Bisher war der Löwenanteil der russischen Vermögenserträge stets für den Wiederaufbau vorgesehen gewesen. Nun sollen die Mittel hauptsächlich das Militär des Landes stärken.
Dem Plan waren monatelange Verhandlungen zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten vorausgegangen. Zum einen verlangte die belgische Regierung, dass der Zugriff keine Haftungsrisiken für den Dienstleister Euroclear aufwerfen dürfe. Nun soll mit einem Teil der Russland-Gelder das Risiko entsprechend abgesichert werden.
Diese Lösung dürfte viele Akteure enttäuschen, in Europa ebenso wie in der Ukraine und in den USA. Allein der Bedarf der Ukraine an Finanzhilfen für den laufenden Haushalt beläuft sich auf etwa 35 Milliarden Euro pro Jahr. Dazu kommen noch die benötigten Lieferungen an Waffen und Munition. In den USA blockieren die Republikaner derzeit ein 60 Milliarden Dollar schweres Hilfspaket für die Ukraine. Diese Lücke kann die EU-Initiative bei Weitem nicht decken.
Doch warum sperrt sich Europa dagegen, Russlands Milliarden direkt an die Ukraine zu überweisen, wie Gruppen von Juristen und Ökonomen wie der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers seit Langem fordern? Ist die EU hasenfüßig, wie manche meinen?
Tatsächlich ist die Lage vertrackt. Eine Beschlagnahmung der russischen Milliarden wäre wohl tatsächlich mit erheblichen juristischen und politischen Risiken behaftet.
Rechtliche Risiken
Juristisch wählt die EU bei der geplanten Abschöpfung der Erträge einen ganz anderen Weg als bei einem direkten Zugriff auf Russlands Milliardenschatz. Formal handelt es sich nicht um den Einzug russischen Eigentums. Die Zinsen und Gewinne werden lediglich mit einer – sehr hohen – Steuer belegt.
Im Falle eines direkten Einzugs der russischen Milliarden könnten sich Firmen wie Euroclear für den Fall russischer Regressforderungen angreifbar machen. Zudem hat Russland bereits angekündigt, im Falle einer Konfiszierung als Vergeltung westliche Vermögenswerte in Russland einzuziehen. Russlands Finanzminister Anton Siluanow hatte erklärt, eine »symmetrische Antwort« geben zu wollen. Eine Befürchtung ist allerdings, Moskau könnte auch asymmetrisch antworten – und zum Beispiel gegen noch in Russland aktive westliche Firmen vorgehen.
Einige internationale Rechtsexperten gehen davon aus, dass es auch juristisch machbar wäre, die russischen Milliarden einzuziehen und für die Ukraine nutzbar zu machen. Mehrere Professoren haben einen entsprechenden offenen Brief verfasst. Darin argumentieren sie, westliche Staaten könnten sich beim Einzug auf das international anerkannte Recht berufen, im Falle einer Aggression sogenannte »countermeasures« anzuwenden, also entsprechende Gegenmaßnahmen.
Innerhalb der EU gibt es einige Befürworter einer solchen Praxis. Die Bundesregierung und Frankreich hingegen halten wenig von einem solchen Vorgehen. Berlins Position auf den Punkt brachte etwa Finanzminister Christian Lindner: Bei »allen ethischen Gefühlen« müsse man »die regelbasierte Ordnung beachten« und Schritte immer auch auf »mögliche Folgewirkungen prüfen«, so Lindner vor Kurzem bei einer Veranstaltung des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.
Politische und ökonomische Risiken
In der EU besteht die Sorge, dass der kurzfristige Nutzen der russischen Milliarden nicht größer ist als der langfristige Schaden, den eine Beschlagnahmung der Gelder auslösen könnte. Konkret: Die EU könnte als wichtiger Finanzplatz Schaden nehmen, falls ausländische Anleger – darunter auch staatliche Akteure – in Zukunft den Euro und europäische Finanzhäuser meiden.
Für die EU-Staaten könnte das beträchtliche Gefahren mit sich bringen, warnt die Europäische Zentralbank. Würden Währungsbehörden, Finanzinstitute oder Investoren anderer autokratischer Länder auf die Idee kommen, dass auch ihre Guthaben in der EU nicht mehr sicher sind, könnten sie ihre Gelder vom Kontinent abziehen. Mit möglicherweise verheerenden Folgen, wie EZB-Chefin Christine Lagarde die europäischen Finanzminister in den vergangenen Monaten mehrfach warnte. Im schlimmsten Fall könne der Kurs des Euro einbrechen und die Stabilität des EU-Finanzsystems in Gefahr geraten.
In der Debatte wird diese Position von manchen Experten kritisiert: Der Ökonom Brad Setser vom Thinktank Council on Foreign Relations etwa geht davon aus, dass internationale Akteure im Falle von Fehlverhalten bereits seit der Blockade der russischen Gelder mit ähnlichen Schritten rechnen müssten. Die Beschlagnahmung hingegen dürfte keine zusätzliche abschreckende Wirkung haben. Saudi-Arabien habe kurz nach Verhängung der Sanktionen gegen Russland Anfang 2022 seine Dollarbestände reduziert, diese seitdem aber sogar wieder leicht erhöht.
China hingegen »kann gar nicht aus dem Dollar und dem Euro gleichzeitig fliehen«, so Setser. Für andere Staaten wiederum gebe es ebenfalls kaum Alternativen zu den beiden westlichen Währungen. Die politischen Risiken bei einer Anlage in chinesischen Yuan wären noch größer.
Vor allem in den USA hat die Diskussion über eine direkte Verwendung der russischen Zentralbank-Milliarden zuletzt Fahrt aufgenommen. Eine Gruppe von Republikanern und Demokraten hat bereits parteiübergreifend einen Gesetzentwurf erarbeitet, der einen solchen Schritt möglich machen soll. Allerdings liegt in den Vereinigten Staaten nur ein Bruchteil des russischen Notenbank-Vermögens.
Angesichts der Schwierigkeiten, eine Mehrheit im US-Kongress für neue Ukrainehilfen zu bekommen und den in der EU immer wiederkehrenden Blockadeversuchen Ungarns dürfte die Debatte über die Verwendung des russischen Zentralbankschatzes aber weitergehen. Mit der wachsenden Kriegsmüdigkeit in Europa und Nordamerika dürfte es für Politiker auch schwieriger werden zu argumentieren, warum Steuerzahler für die Ukraine zahlen sollen, Russlands Milliarden hingegen unangetastet bleiben. Schon macht der Hashtag #MakeRussiaPay die Runde auf der Plattform X.
Womöglich könnten allerdings auch die Finanzmärkte eine Lösung bewerkstelligen, die auch Skeptiker in Deutschland oder Frankreich zufriedenstellt. So kursieren Vorschläge, die nutzbar machen wollen, dass die EU bereits klar signalisiert hat: Die Zentralbank-Milliarden werden nur dann wieder freigegeben, wenn Russland sich bereit erklären würde, Reparationen zu zahlen. Wenn das Geld früher oder später der Ukraine zufließen würde, müssten das Land selbst oder westliche Staaten bereits heute eigentlich Staatsanleihen ausgeben können, mit den russischen Milliarden als Sicherheit, lautet eine – umstrittene – Idee. Der betroffene Zahlungsabwickler Euroclear hat bereits gewarnt, der Plan käme einer »indirekten Beschlagnahmung« der Vermögenswerte sehr nahe und berge für das Unternehmen hohe Risiken.
Auch der russische Ökonom Wladislaw Inosemzew hält das für nicht praktikabel. Stattdessen schlägt er vor, eine Art Spiegelbild des russischen Zentralbankvermögens zu schaffen, auf das die Ukraine dann tatsächlich zugreifen könnte. Die Ukraine müsste dafür gemeinsam mit ihren Unterstützern einen Wiederaufbaufonds gründen. Die Banken, bei denen russische Vermögen aktuell lagern, würden Kredite in der gleichen Höhe an den Fonds vergeben. Die westlichen Regierungen müssten sich verpflichten, die russischen Gelder niemals freizugeben – außer im Falle von Reparationen, die Russland an den Fonds zahle. So könnten Milliarden frei werden, die die Ukraine bereits heute dringend benötigt, so der Ökonom.
Doch auch die nun von der EU gefundene Lösung könnte mehr Geld für die Ukraine freisetzen, als die kommunizierte Summe von 11,5 Milliarden Euro bis 2027. Wenn die Erträge der blockierten russischen Milliarden verlässlich auf viele Jahre oder Jahrzehnte fließen würden, ließe sich dieser Zahlungsstrom womöglich in einem Finanzmarktinstrument schon heute nutzbar machen: Investoren würden dann – vereinfacht gesagt – der Ukraine heute Geld geben und im Gegenzug in den kommenden Jahren die Zinszahlungen einstreichen.
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