Moin liebe Community,
Ich möchte das mal zum Anlass nehmen und euch eine Frage stellen. Wie kommt ihr mit der deutschen Mentalität zurecht, wenn ihr Straßenfotografie macht? Habt ihr Tipps wie man unangenehme Begegnungen möglichst vermeiden kann? Und wenn man doch in eine solche Situation gerät, wie geht ihr damit um?
Ich mache das noch gar nicht lange und das Bild ist mit dem Handy geschossen. Ich möchte aber gerne ein bisschen mehr raus aus der Bude und mit meiner a6400 und Sigma 35 1.4 bzw Tamron 20-70 f2.8 raus auf die Straße. Leider ist das Setup alles andere als unauffällig. Auf YouTube findet man auch nicht besonders viel content aus deutschen Städten, aus offensichtlichen Gründen schätze ich.
So, zur rechtlichen Dimension entspinnt sich ja gerade bereits eine hoffentlich für uns alle erhellende Diskussion - vielleicht möchtest du dir meine Antwort an @SirSamuelVimes ansehen und hast auch eigene Gedanken dazu? Ich finde es jedenfalls klasse, dass wir diesen Austausch hier gleich zum Start führen - das sind ja fundamentale Fragen, über die wir uns ohnehin verständigen müssen.
Wenn ich den juristischen Aspekt für den Moment mal ausklammere, dann bleiben die Aspekte der Straßenfotografie, mit denen es Straßenfotografen unabhängig von der jeweiligen nationalen Rechtsprechung wohl in unterschiedlichen Ausführungen und Ausprägungen stets zu tun bekommen. Das hat dann einerseits mit der “Mentalität” in Sachen Straßenfotografie zu tun, die in einem Land oder einer Region so herrscht, andererseits aber ganz sicher auch mit den eigenen Ängsten, Unsicherheiten und ethischen Abwägungen.
Um es vorab zu sagen: Ich habe da auch keine einfachen Antworten, dafür aber viele Ambivalenzen, Herausforderungen und ja, Ängste und Unsicherheiten. Ich versuche es einfach mal mit ein paar Gedanken, die hoffentlich in der Summe kommunikativ anknüpfungsfähig sind. Es handelt sich nur um meine eigenen, subjektiven Wahrnehmungen und Überlegungen - andere mögen andere Erfahrungen haben.
Es gibt in Deutschland tatsächlich weit mehr als in anderen, oft südlicheren Ländern eine Tendenz zum “Sie haben mir mitten ins Gesicht fotografiert! Das ist eine Straftat!”. Anderswo sehen Menschen es eher als Kompliment an, wenn man sie für interessant genug hält, sie fotografieren zu wollen. Auch gibt es eben in anderen Ländern andere rechtliche Rahmenbedingungen, und man ist im öffentlichen Raum eher geneigt, das fotografiert werden zu tolerieren. Stichwort “no expectation of privacy in public”.
Ich möchte das nicht weiter beurteilen. Klar dürfte aber sein, dass man Fotografie im Stil eines Bruce Gilden in Deutschland wohl getrost vergessen kann. Ich mache auch viele, viele Bilder nicht - einfach aus Unsicherheit, weil ich nicht in einen Konflikt geraten möchte und vor allem: Weil ich oft gar nicht genau sagen könnte und eigentlich auch nicht genau weiß, warum ich diese Person(en) jetzt eigentlich fotografieren möchte.
Da setze ich für mich an:
– Ich bin grundsätzlich davon überzeugt (oder arbeite an meiner Überzeugung!), dass ich etwas gutes und *wertvolles mache. Ich will niemandem etwas zu leide tun, niemanden bloßstellen, erniedrigen, mich an niemandem bereichern. Daher betreibe ich auch keine Elendsfotografie (würde aber niemanden per se verurteilen, der sich bewusst und in geeigneter Weise für dieses Thema entscheidet).
– Aber: Ich mit meiner Kamera mache Momente des Alltags, die ansonsten unwiederbringlich verloren und in aller Regel von niemandem wahrgenommen worden wären, zu betracht- und reflektierbaren Bildern. Mit den Mitteln der Fotografie mache ich im besten Fall aus alltäglichen “Nichts” Kunst. Das kann schön sein, es kann unterhalten, es kann zum nachdenken anregen, es kann auch nur therapeutisch für den Fotografen sein und niemals veröffentlicht werden (so dürfte es 99% meiner Bilder gehen). In keinem Fall aber ist meine Intention negativ oder aggressiv und genau das strahle ich dann im besten Fall auch aus. Genau diese Ausstrahlung - heiteres kreatives tun statt verstohlenem “Bilder rauben” - macht glaube ich auch viel Unterschied. Von daher halte ich auch nix davon, versteckt oder unauffällig mit möglichst kleinen Kameras umherzuschleichen. Hiding in plain sight liegt mir da mehr. Am liebsten würde ich manchmal einen riesigen Holzkasten auf ein Stativ stellen - aber klar, manchmal lebt das Bild eben auch von 28mm und Subjekten, die wie zufällig noch am Bildrand erscheinen.
– Ich mache ein Bild, wenn ich genau weiß und genau benennen könnte, warum ich dieses Bild mache. In aller Regel hat das dann ganz wenig mit der konkreten Person zu tun, die erscheint. Es gibt mir aber Sicherheit, zu wissen, dass ich auf Nachfrage ohne Rumgestammele rechtfertigen kann, warum ich ein Bild gemacht habe. Besonders toller Schatten, klasse Farben, eine interessante Spiegelung, eine tolle Szene…
– Momentan arbeite ich an der Erstellung eines kleinen Portfolios in Form eines kleinformatigen Buchs für die Fototasche. Dann kann ich nachfragenden Personen zeigen, was ich so mache.
– Inspiration bieten für Straßenfotografie, die weniger auf Menschen und ihre Gesichter abzielt und dennoch voller Leben und Magie steckt finde ich vor allem bei Saul Leiter und dem subtil brillanten Siegfrid Hansen. Letzterer ist als Mensch, der im Deutschland der Gegenwart fotografiert, ganz sicher kein schlechter Ausgangspunkt für eigene Ansätze…
So, jetzt habe ich die Gelegenheit genutzt, mal ein paar Sachen auch für mich selbst auszuformulieren - und du verstehst nun vielleicht auch, warum ich eher nichts ins Smartphone tippen wollte :)
Nochmal vielen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, so einen ausführlichen Text zu schreiben! Ich schätze mal ich handhabe es ähnlich wie du. Wenn man einen Menschen gezielt in den Fokus rückt, dann nur mit gutem Grund. Ansonsten geht es mir nur um Momentaufnahmen. Wie z.b. bei der Dame im Café. Sie tüdelt da ein wenig rum und geht ihrer Arbeit nach. Der Fokus liegt aber nicht auf sie, sondern auf das Gesamtambiente. Hiding in plain sight ist ein guter Ratschlag, ich denke damit fährt man ganz gut. Ich bin noch ganz am Anfang und mache das auch nur als Hobby, von daher freue ich mich sehr über entsprechende Erfahrungsberichte anderer Hobbyfotografen :)
Ich bin gerade in Regensburg aber ziemlich kaputt von der Arbeit. Ich hoffe morgen Abend ein paar schöne Fotos machen zu können und werde diesen Sub entsprechend häufiger nutzen.
Hier würde ich Dir die Gegenprobe empfehlen: Was würde passieren, wenn Du die Dame aus dem Bild entfernst? Verändert sich die Stimmung / Aussagekraft / Gestaltung gravierend? Dann ist es meines Erachtens kein Beiwerk sonder zentraler Bestandteil.
Nimm z.B. Dein anderes Bild: https://feddit.de/post/1663246 - hier würde ich den Passanten als absolutes Beiwerk ansehen. Ob der da rumläuft oder nicht beeinflusst das Bild nicht im Geringsten.